Vorbereitung auf die Schule durch Sport und Spiel – Armans Geschichte

Arman geht seit einem Jahr zur Schule. Seine Lehrerin ist zufrieden mit ihm. Im Gegensatz zu anderen Kindern hört er aufmerksam zu und erledigt seine Aufgaben selbstständig. „Sogar seine Hausaufgaben macht er immer alleine“, erklären seine Eltern. Es ist nicht selbstverständlich, dass der Siebenjährige so einfach in der Schule mithalten kann. Seine Mutter kann weder lesen noch schreiben und sein Vater besuchte die Grundschule nur für wenige Jahre. Es fällt ihnen schwer, Arman und seine vier Geschwister in der Schule zu unterstützen. Dennoch ist es ihnen wichtig, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhalten und es einmal besser haben als sie selbst.

Arman und seine Eltern.

In Indien bleibt vielen Kindern, welche unter schwierigen sozioökonomischen Bedingungen aufwachsen, der Zugang zu hochwertiger Bildung verwehrt. Der Mangel an Infrastruktur und ausgebildeten Lehrpersonen sowie prekäre Lebensbedingungen und Armut hindern Kinder aus den ärmsten Gegenden oft daran, regelmäßig oder überhaupt zur Schule zu gehen. Diejenigen, welche eine Schule besuchen, müssen belastbar sein; die Lehrmethoden sind oft harsch und die Bedingungen an öffentlichen Schulen sind für Kinder ohne ausreichende Unterstützung von zu Hause eine grosse Herausforderung.  Dies hat zur Folge, dass jedes vierte Kind die Grundschule nicht abschliesst, insbesondere in und um Mirzapur im Südosten Uttar Pradeshs, wo Arman aufwächst. Uttar Pradesh ist der indische Bundesstaat mit dem niedrigsten Anteil an Kindern, die eine Schule besuchen.[i] [ii]

Dorf in der Nähe von Mirzapur, Uttar Pradesh, Indien.

Frühkindliche förderung für einen guten Schulstart

Eine Lösung für dieses Problem bietet die frühzeitige Vorbereitung der Kinder auf die Schule: Frühkindliche Förderung kann sich positiv auf den späteren Schulerfolg eines Kindes auswirken – und sogar strukturelle Benachteiligung durch Armut, Diskriminierung oder Krankheit ausgleichen, welche das Leben vieler Kinder von Anfang an prägen. Denn die ersten sechs Jahre des Lebens eines Menschen gelten als die wichtigsten für seine Entwicklung. Das Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, die Förderung und Unterstützung, die sie erhalten und die Aktivitäten, denen sie in dieser Zeit nachgehen, können entscheidend für ihren Bildungsweg und ihre Gesundheit sein und sogar ihre soziale und wirtschaftliche Teilhabe im Erwachsenenalter beeinflussen. Bewegung und Interaktion fördern die Gehirnentwicklung von Kleinkindern. Vernachlässigung, Stress und Mangelernährung führen zu Entwicklungsverzögerungen, die im späteren Leben nur schwer wieder aufgeholt werden können.[iii] Die frühkindliche Entwicklung legt den Grundstein für die Entfaltung des Potenzials von Kindern und kann dazu beitragen, den Teufelskreis der Armut zu durchbrechen.

Auch die indische Regierung hat das Potenzial der frühkindlichen Förderung erkannt. Seit 2005 werden in ganz Indien “Anganwadi[GD1] ”-Zentren errichtet, in welchen die Kinder bis zu ihrem sechsten Lebensjahr in ihrer Entwicklung unterstützt werden. Die Anganwadi-Zentren bieten auch staatliche Dienstleistungen an, darunter Gesundheitschecks, Impfungen und Ernährungsberatung.[iv] Obwohl sich die Zahl der Kinder, die diese Zentren besuchen, zwischen 1999 und 2010 verdreifacht hat und im Jahr 2018 70% der Dreijährigen und mehr als 85% der Vierjährigen ein Zentrum besuchten, sind Kinder, welche unter erschwerten Bedingungen aufwachsen, immer noch deutlich unterrepräsentiert. Insbesondere auf dem Land bleibt vielen Kindern der Zugang zu den Zentren verwehrt, da diese eher im städtischen Raum zu finden sind.[v] Trotz der Bemühungen der indischen Regierung, bleiben deshalb die Kinder, die am meisten von frühkindlicher Förderung profitieren würden, davon ausgeschlossen. Armans Geschichte zeigt jedoch, dass es Möglichkeiten gibt auch die am stärksten benachteiligten Kinder in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Mit nur wenigen Ressourcen können ihre Lernlücken geschlossen und ihre Chance erhöht werden, in der Schule Erfolg zu haben.

Move & Improve: Zentren für frühkindliche Entwicklung und Sensibilisierung der Gemeinschaft in Mirzapur

Arman und sein Erfolg in der Schule widersprechen den oben erwähnten nüchternen Statistiken. Seine Eltern sind davon überzeugt, dass seine schulischen Leistungen auf seine frühe Förderung zurückzuführen sind. Arman besuchte eines der 50 Zentren für frühkindliche Entwicklung, die von der Swiss Academy for Development (SA4D) und ihrer Partnerorganisation Centre for Rural Education and Development (CREDA) eingerichtet wurden. CREDA und die SA4D initiierten gemeinsam das „Move & Improve“ – Projekt, um sicherzustellen, dass das Recht auf Bildung auch für benachteilige Kinder in und um Mirzapur respektiert wird. Dafür werden Kinder in Gegenden, in denen es kaum oder keinen Zugang zu den staatlich betriebenen Angandwadi-Zentren für frühkindliche Entwicklung gibt, auf die Schule vorbereitet.

CREDA führt eine Schulung zu ganzheitlichen und spielerischen Lehrmethoden für Erziehende durch.

Um den Zugang zu Bildung langfristig zu verbessern und sozial und strukturell zu verankern, verfolgen CREDA und die SA4D in diesem Projekt einen ganzheitlichen Ansatz. Dieser Ansatz stellt die Bedürfnisse der Kinder in den Mittelpunkt und berücksichtigt die kognitiven, physischen, emotionalen und sozialen Aspekte ihrer Entwicklung. Darüber hinaus fokussieren CREDA und die SA4D ihre Arbeit nicht nur auf die Kinder selbst, sondern arbeiten auch mit deren Eltern und Gemeinschaft zusammen, um sie dafür zu sensibilisieren, wie sie ihre Kinder in ihrer weiteren Schulbildung unterstützen können. Denn die erfolgreiche Schullaufbahn eines Kindes wird von vielen Faktoren beeinflusst – die Schule selbst ist nur einer davon. Kinder werden in Interaktion mit ihren Eltern, ihren Familien, ihren Freunden und ihrer Umgebung sozialisiert.

Um diesen Kontext, in dem Kinder aufwachsen, zu berücksichtigen, und die Bildung der Kinder zu einem zentralen Thema in der Gemeinschaft zu machen, werden Eltern, Betreuungs- und Bezugspersonen sowie Gemeinschaftsmitglieder in regelmässigen Treffen für bildungsrelevante Themen und frühkindliche Entwicklung sensibilisiert. Ein weiterer Aspekt des holistischen Ansatzes ist die Ausbildung von Lehrpersonen für frühkindliche Entwicklung. Die Lehrpersonen werden von der SA4D und CREDA darin geschult, die kindliche Entwicklung durch spielerische Aktivitäten zu unterstützen.  Die Massnahmen im sozialen Umfeld der Kinder bieten noch einen weiteren Vorteil: Durch die enge Zusammenarbeit mit den Bezugs- und Betreuungspersonen, sowie durch eine intensive Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft, können die Bedürfnisse der Kinder und deren Umfeld mit einbezogen und ihre Lebensbedingungen und Zukunftsaussichten nachhaltig und langfristig verbessert werden. Eine sichere und fördernde Lernumgebung innerhalb und ausserhalb des Klassenzimmers ermöglicht es den Kindern, ihr volles Potenzial auszuschöpfen.

Eine Lehrerinnen führt das „Tasten und Spüren“-Spiel mit den Kindern durch, welches die Neugier und die Sinne der Kinder anregt.

Ganzheitliche Entwicklung durch Sport und Spiel

Spielen ist zentral für die kindliche Entwicklung. Aus diesem Grund nutzen Lehrpersonen in den Zentren für frühkindliche Entwicklung der SA4D und CREDA Sport und Spiel als Methode, um Kinder in ihrer ganzheitlichen Entwicklung zu unterstützen und insbesondere ihre kognitiven, physischen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten zu fördern. Diese sind für den schulischen Erfolg notwendig:

Kognitiv: Spielen stimuliert die natürliche Neugier und den Wunsch des Kindes zu lernen und eignet sich für verschiedene Lerntypen. Im Spiel können Kinder Neues ausprobieren, Probleme lösen, Geschichten erfinden und Ideen testen. Kinder werden ermutigt, die Welt um sie herum zu erkunden und zu verstehen. In einem spielerischen Umfeld lernen sie, sich zu konzentrieren, zu beobachten, zu reflektieren und vorauszuplanen. Außerdem fördern spielerische Aktivitäten das logische und strategische Denken, die Entscheidungsfindung und die Problemlösung. Schliesslich wirkt es sich auch positiv auf die Sprachentwicklung der Kinder aus, indem das Hörverständnis, der Wortschatz und der sprachliche Ausdruck verbessert werden.

Physisch: Durch Bewegungs- und Geschicklichkeitsspiele entwickeln Kinder körperliche und motorische Fertigkeiten. Sie verbessern ihre Körperwahrnehmung, ihr Gleichgewicht, ihren Rhythmus sowie ihre Koordinations-, Orientierungs- und Reaktionsfähigkeit. Wenn Kinder sich regelmässig bewegen, lernen sie ausserdem flexibler und widerstandsfähiger zu reagieren und werden stärker.

Emotional: In einem geschützten Umfeld werden sich die Kinder ihrer Gefühle bewusst und lernen, diese zu kontrollieren. Gewinnen und Verlieren verbessert ihre Fähigkeit mit negativen Gefühlen wie Angst, Frustration oder Aggression umzugehen. Durch Malen, Basteln und Rollenspiele lernen sie, ihre Gefühle zu erkennen und mitzuteilen. Gleichzeitig wird ihr Selbstvertrauen gestärkt.

Sozial: Spielen erlaubt es Kindern Freundschaften zu schliessen und vertrauensvolle Beziehungen zu Erwachsenen aufzubauen. Im Spiel lösen Kinder Konflikte, sie verhandeln und kooperieren miteinander, befolgen Regeln und handeln als Teil eines Teams.

Die spielerische Förderung in diesen vier Aspekten der kindlichen Entwicklung erleichtert Kindern den Schulstart. Kinder werden auf das formale, staatlich geführte Schulsystem vorbereitet. In Kombination mit der Sensibilisierung der Gemeinschaft für die Bedeutung von Bildung, bieten diese Aktivitäten den Kindern die notwendige Unterstützung, um zu wachsen, zu lernen und ihr volles Potenzial zu entfalten.

Die Zentren für frühkindliche Entwicklung verfügen über Spielzeug, das aus lokal verfügbaren Materialien hergestellt wurde.

Darüber hinaus können alle Sport- und Spielmaterialien von den Betreuenden oder den Eltern selbst angefertigt werden: Zum Beispiel Bälle, Hand- und Fingerpuppen aus lokal verfügbaren Materialien wie Ton, Holzstäben oder altem Stoff. Daher eignet sich dieser Ansatz besonders für Gemeinschaften, die nur über knappe Ressourcen verfügen.

Ein nachhaltiger Wandel

Für Arman war die frühkindliche Förderung ein grosser Erfolg. Er ist der Jüngste in der Familie und der Einzige, der die Vorschule besucht hat. Vor „Move & Improve“ gab es im Dorf keine kostenlose Frühförderung. Er besuchte das Zentrum für frühkindliche Entwicklung zum ersten Mal, als er vier Jahre alt war. Nachdem er sich an die Spiele gewöhnt hatte, bemerkten seine Eltern, dass er sie auch zu Hause gerne spielte. So lernte er zum Beispiel, wie wichtig Händewaschen und Zähneputzen sind. «Plötzlich brauchten wir ihn nicht mehr daran zu erinnern – er machte alles von selbst.» Obwohl Arman die Schule mag, vermisst er die Vorschule. Auf die Frage, warum, zögert er nicht lange: „Die Spiele!“

Referenzen:

[i] USAID, Dropout trend analysis: India, 2011, pages 14-18

[ii] According to UNICEF India, the RTE contributed to reducing by more than half the number of out of school children. However, the majority of the remaining 6 million children out of school across India come from the most marginalized communities and 75% of them live in only 6 (including Uttar Pradesh) of the 28 Indian states (https://www.unicef.org/india/key-data).

[iii] Milteer, R. M., Ginsburg, K. R., Council on Communications and Media, & Committee on Psychosocial Aspects of Child and Family Health. The importance of play in promoting healthy child development and maintaining strong parent-child bond: Focus on children in poverty. Pediatrics, 129, e204–e213

[iv] Government of India, Ministry of Women and Child Development, National Early Childhood Care and Education Policy, 2013

[v] Annual Status of Education Report. ASER 2020 http://img.asercentre.org/docs/ASER%202021/ASER%202020%20wave%201%20%20v2/state%20estimates/uttarpradesh.pdf

 

Veröffentlicht 31.08.2023